Rede zum Tag der deutschen Einheit 1964

Die Jugend ist aufgerufen !

Wir bringen im folgenden den Wortlaut einer Rede, die der politische Referent des AStA der Universität Würzburg, Enno Winkler , zum 17. Juni auf einer gemeinsamen Veranstaltung der Stadt, des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, der Schulen, der Gewerkschaften und der Studentenschaft gehalten hat und die uns hervorragend genug erscheint, um sie auch heute noch unseren Lesern zur Kenntnis zu geben.

Redaktion NEUE POLITIK

 

Enno WinklerIch grüße die Unentwegten, die in Ermangelung einer anderen, besseren Möglichkeit zu dieser Kundgebung kamen, und ich grüße die Vertreter der verschiedenen Institutionen und Organisationen. Vor allem aber grüße ich die Jugend.

Ihr allein wird es möglich sein, die Labyrinthe nationaler Unglaubwürdigkeit niederzureißen. Sie allein hat die Möglichkeit zu reden, was ihrem Wollen entspricht, und zu wollen, was ihrem Denken entspricht. Sei es nun für oder gegen eine Wiedervereinigung.

Es genügt nicht, daß wir unser Gewissen mit Wohltätigkeiten aus dem Überfluß korrumpieren, mit risikolosen Deklamationen der Verbundenheit und Einheit und mit Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung. Die Gemeinschaft unseres Volkes fordert mehr. Sie fordert Nationalbewußtsein und den Gebrauch vorhandener Freiheit.

Es ist traurig, wenn Nationalbewußtsein gefordert werden muß. Aber wenn wir die Deutschen, die wir am 17. Juni als „Brüder und Schwestern“ feiern, an gewöhnlichen Wochentagen als Menschen zweiter Klasse ansehen, wenn wir weniger über unsere Landsleute und ihre Heimat wissen als über Italien oder Amerika und wenn wir den Tag des 17. Juni feiern, während diejenigen, denen wir diesen Tag gewidmet haben, arbeiten müssen, dann habe ich den Verdacht, daß zumindest in diesem Teil unseres Vaterlandes das Zusammengehörigkeitsgefühl verlorengegangen ist.

Wenn wir uns im Heroismus unserer Landsleute sonnen, wenn wir nicht bereit sind, mehr als Überfluß für die Wiederherstellung unserer Einheit zu opfern, wenn wir „Deutschland" sagen und die Bundesrepublik meinen und wenn wir uns noch immer vorgaukeln, unsere Wiedervereinigung sei das erste und alleinige Ziel jeder Politik der Siegermächte, dann zeugt das nicht nur von gesamtdeutscher Verantwortungslosigkeit, dann zeugt das auch von zagender Schwäche, ja von mangelndem Vertrauen in das eigene Vermögen.

Wir brauchen ein Nationalbewußtsein, frei von nationaler Hybris, aber erfüllt von einem uneingeschränkten Zusammengehörigkeitsgefühl, erfüllt von dem Bewußtsein der Verantwortung und erfüllt von Selbstvertrauen.

Es ist beschämend, wenn der Gebrauch vorhandener Freiheit gefordert werden muß. Beschämend, weil wir doch gerade so lautstark als Prediger der Freiheit auftreten. Ich meine nicht den Gebrauch materieller Freiheit. Ich meine den Gebrauch der Freiheit des Denkens und der Diskussion, des politischen Denkens, aus dem sich das Wollen und schließlich die Tat ergibt.

Diese Freiheit des Denkens ist uns abhanden gekommen. Erzieher und Zeitungen vermittelten uns Schablonen, und in diese Schablonen pressen wir alles, ob es hineinpaßt oder nicht.

Wir vergessen, daß wir Unglück auslösen müssen, wenn wir unsere Standpunkte nicht an der Entwicklung orientieren; wir vergessen, daß das Wesen der Freiheit gerade das immer erneute Fragen und Antworten ist und daß der Verzicht darauf Unfreiheit bedeutet; und wir vergessen, daß uns Freiheit und Denken zum Gebrauch und nicht als Phrase gegeben wurde.

Zu oft wird die Bevölkerung der DDR zu kritischem Denken aufgefordert. Wir werden es nie. Ich glaube, daß ein gewaltsam unterdrückter Volksteil eher kritisch denkt, als es ein satter tut.

Und so hole ich nach, was anderenorts vergessen wurde. Ich fordere die Bevölkerung der Bundesrepublik auf, in der Deutschland-Frage kritisch zu denken, ich fordere sie auf, den eigenen Standpunkt ständig neu zu überprüfen, und ich fordere besonders die Jugend auf, Andersdenkende in der Diskussion für die eigene Anschauung zu gewinnen.

Wir brauchen eine Politik, die sich am Möglichen orientiert. Vorhin wurde die Frage gestellt, wo und wie die Jugend der DDR noch Argumente gegen den Kommunismus sammeln kann. Dazu ist zu sagen: es gibt positive Möglichkeiten. Ich erinnere an Passierscheine und Zeitungsaustausch. Noch läßt sich ein endgültiges Auseinanderleben unseres Volkes vermeiden. Natürlich ist Politik Risiko. Aber die endgültige Trennung unseres Vaterlandes ist ein größeres Risiko. Wir werden uns durchsetzen, wenn uneingeschränktes Zusammengehörigkeitsgefühl Motor unseres Handelns wird und der Gebrauch der Freiheit des Denkens seine Grundlage.

Wir brauchen neue Vorbilder, Vorbilder, die wir rechts und links und bei unseren Vätern nicht fanden.


Literatur-Nachweise :

1) Winkler, Enno: Die Jugend ist aufgerufen. Rede zum Tag der deutschen Einheit. Neue Politik ( Hamburg ) 9 (1964) 27: 433

2) Für ein gemeinsames Deutschland. Main-Post (Würzburg) 20 (1964) 137: 3